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MODERNER KOLONIALISMUS | Sprechweise des »Westens«

Begonnen von Steven, 11. Juli 2022, 07:38:41

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Steven

Ende der »weißen Immunität«? Charlotte Wiedemann sieht in der Geschichtsbetrachtung ein neues Zeitalter anbrechen

Es war ein denkwürdiges Ergebnis: Als im März die Vereinten Nationen eine Resolution zur Ukraine verabschiedeten, konnten »westliche« Medien zwar berichten, dass ein großer Teil der Staaten weltweit den russischen Angriff verurteile. Weniger lautstark besprochen wurde aber, dass sich unter den Ländern, die dagegen gestimmt oder sich des Votums enthalten hatten, so bevölkerungsreiche wie China und Indien befanden. Einige waren erst gar nicht zur Stimmabgabe erschienen. Weit gefehlt, ein Bild der Geschlossenheit abzugeben, zeigte sich nicht zuletzt an der Debatte über Sanktionen, denen sich nur wenige Länder anschließen wollten, dass die absolute Dominanz des »Westens« schwindet.

Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. Propyläen, Berlin 2022, 288 Seiten, 22 Euro
Die Heuchelei in der Empörung über Russland und auch der Rassismus in der rührenden Sorge um ukrainische Flüchtlinge waren unverkennbar. »Solange koloniale Verbrechen und westliche Kriegsvergehen nicht hinreichend anerkannt sind, trifft ein europäischer Appell, in globaler Gemeinschaftlichkeit gegen einen Angriffskrieg zu stehen, auf Vorbehalte, auch auf Ressentiments«, schreibt Charlotte Wiedemann in ihrem jüngsten Reportageband »Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis«. Aufgrund der Machtverschiebungen im Großen, aber auch Veränderungen der eigenen Gesellschaft, die vielstimmiger werde, sieht sie ein »neues Zeitalter der Geschichtsbetrachtung« anbrechen, in dem es vorbei sei mit der seit Kolonialzeiten gewohnten »weißen Immunität«.

Die Neuerscheinung schließt an Wiedemanns voriges Buch an, in dem es um den »Abschied von der weißen Dominanz« ging. Gleich zu Beginn erzählt die Autorin, wie sie zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert worden war, dass auch Afrikaner gegen die Nazis gekämpft hatten: in einem Dorf in Mali, wo ihre Gastgeber ihr die Photographie von schwarzen Soldaten in einem verschneiten Schützengraben zeigten. Eine großartige Geste, wie Wiedemann hervorhebt, schließlich stand ihre Familie auf der anderen Seite der Front. Doch der Anteil etwa von Afrikanern an der Befreiung vom Faschismus wird bis heute ausgeblendet. Nicht nur sind die systematischen Verbrechen der Wehrmacht an schwarzen Kriegsgefangenen so gut wie unbekannt. 1944 durften aus den Kolonien stammende Soldaten nicht am Einzug in Paris teilnehmen. In der US-Armee wurden Afroamerikaner wie in den USA selbst diskriminiert – angefangen damit, dass sie von Fotos ferngehalten wurden.

Auch nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft gingen die Kämpfe weiter
Wiedemann besucht Thiaroye in Senegals Hauptstadt Dakar, wo 1944 Kriegsheimkehrer massakriert wurden, nachdem sie gegen Betrug bei der Besoldung protestiert hatten: Nichts erinnert an das Verbrechen der französischen Kolonialmacht. Ein Denkmal finde sich allerdings im malischen Bamako. Ein eigenes Kapitel widmet die Autorin Algerien, dem ersten Land, für das in der Bundesrepublik eine Solidaritätsbewegung entstand. Der 8. Mai 1945 war dort kein Tag der Befreiung. In Sétif und Guelma metzelten französische Soldaten und Siedler Tausende Algerier nieder, nachdem auf Demonstrationen die algerische Fahne gezeigt worden war. Wiedemann schreibt auch über Tansania, wo deutsche Kolonialtruppen Jahrzehnte zuvor den Maji-Maji-Aufstand niederschlugen. Die Winkelzüge der Bundesregierung gegenüber den Nachfahren der Herero und Nama in Namibia erklärten sich auch daraus, wie Wiedemann anmerkt, dass man weitere Entschädigungsforderungen aus Tansania vermeiden wolle, wo Deutsche nicht minder große Schuld auf sich luden.

Heißt es den Holocaust in seiner Bedeutung relativieren, wenn man ihn in eine Beziehung bringt zu den Verbrechen des Kolonialismus? Wiedemann erläutert, wie es dazu kam, dass der Begriff Holocaust zum Synonym für den Mord an den Juden allein wurde; sie spricht von einer »Hierarchie der Opfer«, in der sowjetische Kriegsgefangene oder Sinti und Roma bis heute ganz unten rangieren. Wiedemanns Buch ist hier vor allem eine Anregung zum Weiterlesen. Wenn zum Beispiel die kamerunische Autorin Léonora Miano vorgestellt wird, die beanstande, dass Begriffe wie Holocaust auch zur Kennzeichnung des Verbrechens der Sklaverei verwendet würden, »weil der Westen den Genozid an den Jüdinnen und Juden als Gipfel der Barbarei betrachtet«. Man verwende also den gleichen Begriff, um »mit eigenem Opferkapital aufzutrumpfen«. Sie verlangt Kategorien zur Betrachtung der Geschichte, die nicht der Sprechweise des »Westens« entlehnt seien.

Auch im Niedergang lässt dieser Westen keinen Zweifel, dass er seine Herrschaft verteidigt. Lange vor dem Angriff auf die Ukraine wurde Russland in allem, was es tat, ins Unrecht gesetzt. Von gleicher, gleichsam kolonialer Überheblichkeit ist die Politik gegenüber China, dem der Bundestag diktieren will, wie es sich zu verhalten habe. Aber was nützt eine von Wiedemann in Aussicht gestellte »neue Ethik der Beziehungen«, was ein »Antifaschismus des 21. Jahrhunderts« angesichts der Bedrohung des Planeten? Bräuchte es nicht eine Revolution? Genau darum geht es: um globale Gerechtigkeit, die es nicht ohne eine Aufarbeitung des Kolonialismus geben wird, der in der Gegenwart fortwirkt. Gewidmet hat Wiedemann das Buch Esther Bejarano, die »als Überlebende von Auschwitz« den »Kampf für eine gerechtere Welt« nie aufgab.

Quelle: junge Welt
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Steven Rohrmooser
      Redaktion


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