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💣 Russland wird in der Ukraine wohl einen hässlichen Sieg erringen

Begonnen von Urs, 10. Juli 2023, 08:52:12

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Urs

💣 Vor uns liegt die Dunkelheit: Russland wird in der Ukraine wohl einen hässlichen Sieg erringen. Die Beziehungen zum Westen dürften lange vergiftet bleiben


In diesem Beitrag wird der weitere Verlauf des Ukraine-Krieges untersucht.1 Ich werde dabei zwei Hauptfragen behandeln.

Erstens Ist ein sinnvolles Friedensabkommen möglich? Meine Antwort lautet: Nein. Wir befinden uns in einem Krieg, in dem sich beide Seiten – die Ukraine und der Westen auf der einen sowie Russland auf der anderen Seite – gegenseitig als existenzielle Bedrohung ansehen, die es zu besiegen gilt. Angesichts der maximalistischen Ziele auf beiden Seiten ist es fast unmöglich, einen tragfähigen Friedensvertrag zu schliessen. Darüber hinaus bestehen zwischen den beiden Seiten unüberbrückbare Differenzen in Bezug auf das Territorium und die Beziehungen der Ukraine zum Westen. Das bestmögliche Ergebnis wäre ein eingefrorener Konflikt, der jedoch leicht wieder in einen heissen Krieg umschlagen könnte. Im schlimmsten Fall könnte es zu einem Atomkrieg kommen, was zwar unwahrscheinlich ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann.

Zweitens Welche Seite wird wahrscheinlich den Krieg gewinnen? Russland wird den Krieg letztlich gewinnen, auch wenn es die Ukraine nicht entscheidend besiegen wird. Mit anderen Worten, es wird nicht die gesamte Ukraine erobern, was aber notwendig wäre, um drei der Ziele Moskaus zu erreichen: den Sturz des Regimes, die Entmilitarisierung des Landes sowie den Abbruch der Sicherheitsbeziehungen zwischen Kiew und dem Westen. Am Ende wird es jedoch einen grossen Teil des ukrainischen Territoriums annektieren und die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat verwandeln. Mit anderen Worten: Russland wird einen hässlichen Sieg erringen.

Bevor ich direkt auf diese Fragen eingehe, sind drei Vorbemerkungen angebracht. Zunächst einmal versuche ich, die Zukunft vorherzusagen, was angesichts der Tatsache, dass wir in einer unsicheren Welt leben, nicht einfach ist. Ich behaupte also nicht, dass ich im Besitz der Wahrheit bin; tatsächlich könnten sich einige meiner Behauptungen als falsch erweisen. Ausserdem sage ich nicht, dass das geschehen soll, was ich gerne hätte. Ich spreche mich weder für die eine noch für die andere Seite aus. Ich sage Ihnen lediglich, was meiner Meinung nach im weiteren Verlauf des Krieges geschehen wird. Schliesslich rechtfertige ich weder das russische Verhalten noch die Handlungen der an dem Konflikt beteiligten Staaten. Ich erkläre nur ihre Handlungen.

Lassen Sie mich nun zum Inhalt kommen.

Tödliche Bedrohung für Russland

Um zu verstehen, wohin der Krieg in der Ukraine führt, muss man zunächst die gegenwärtige Situation bewerten. Es ist wichtig zu wissen, wie die drei Hauptakteure – Russland, die Ukraine und der Westen – über ihr Bedrohungsumfeld denken und ihre Ziele konzipieren. Wenn wir über den Westen sprechen, meinen wir in erster Linie die Vereinigten Staaten, denn die europäischen Verbündeten erhalten ihre Marschbefehle von Washington, wenn es um die Ukraine geht. Es ist auch wichtig, die gegenwärtige Situation auf dem Schlachtfeld zu verstehen. Lassen Sie mich mit Russlands Bedrohungsumfeld und seinen Zielen beginnen.

Ich spreche mich weder für die eine noch für die andere Seite aus. Ich sage lediglich, was geschehen wird.

Seit April 2008 ist klar, dass die russische Führung die Bemühungen des Westens, die Ukraine in die Nato einzubinden und sie zu einem westlichen Bollwerk an den Grenzen Russlands zu machen, als existenzielle Bedrohung ansieht. In den Monaten vor der russischen Invasion, als ihnen klar wurde, dass die Ukraine de facto fast ein Mitglied der Nato war, haben Präsident Wladimir Putin und seine Stellvertreter diesen Punkt wiederholt angesprochen.2a–f Seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 hat der Westen dieser existenziellen Bedrohung eine weitere Ebene hinzugefügt, indem er eine Reihe neuer Ziele verfolgt, die die russische Führung als äusserst bedrohlich ansehen muss. Auf die Ziele des Westens werde ich weiter unten noch näher eingehen, aber es genügt hier zu sagen, dass der Westen entschlossen ist, Russland zu besiegen und aus den Reihen der Grossmächte zu verdrängen, wenn nicht sogar einen Regimewechsel herbeizuführen oder Russland zum Auseinanderbrechen zu bringen, wie es in der Sowjetunion 1991 geschah.

In einer grossen Rede, die Putin im Februar 2023 hielt, betonte er, dass der Westen eine tödliche Bedrohung für Russland darstelle. «In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion», so Putin, «hat der Westen unablässig versucht, die postsowjetischen Staaten in Brand zu setzen und vor allem Russland als den grössten überlebenden Teil der historischen Ausdehnung unseres Staates zu vernichten. Sie ermutigten internationale Terroristen, uns anzugreifen, provozierten regionale Konflikte entlang unseren Grenzen, ignorierten unsere Interessen und versuchten, unsere Wirtschaft einzudämmen und zu unterdrücken.» Er betonte weiter: «Die westlichen Eliten machen keinen Hehl aus ihrem Ziel, das, ich zitiere, ‹Russlands strategische Niederlage› ist. Was bedeutet das für uns? Es bedeutet, dass sie planen, uns ein für alle Mal zu erledigen.» Putin fuhr fort: «Dies stellt eine existenzielle Bedrohung für unser Land dar.»3 Die russische Führung sieht auch das Regime in Kiew als Bedrohung für Russland an, nicht nur, weil es eng mit dem Westen verbündet ist, sondern auch, weil sie es als Nachkommen der faschistischen ukrainischen Streitkräfte betrachtet, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite Nazideutschlands gegen die Sowjetunion gekämpft haben.4a–b

Russland muss diesen Krieg gewinnen, da es glaubt, dass sein Überleben bedroht ist. Doch wie sieht ein Sieg aus? Bevor der Krieg im Februar 2022 begann, war das ideale Ergebnis, die Ukraine in einen neutralen Staat zu verwandeln und den Bürgerkrieg im Donbass zu beenden, in dem die ukrainische Regierung gegen ethnische Russen und russischsprachige Menschen kämpfte, die eine grössere Autonomie, wenn nicht gar Unabhängigkeit für ihre Region anstrebten. Es scheint, dass diese Ziele im ersten Monat des Krieges noch realistisch waren und tatsächlich die Grundlage für die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau im März 2022 in Istanbul bildeten.5a–b Hätten die Russen diese Ziele damals erreicht, wäre der jetzige Krieg entweder verhindert oder schnell beendet worden.

Aber ein Abkommen, das die Ziele Russlands erfüllt, ist nicht mehr zu erwarten. Die Ukraine und die Nato sind auf absehbare Zeit aneinandergekettet, und keiner von beiden ist bereit, die ukrainische Neutralität zu akzeptieren. Darüber hinaus ist das Regime in Kiew der russischen Führung ein Dorn im Auge, und sie will es loswerden. Sie sprechen nicht nur von der «Entnazifizierung» der Ukraine, sondern auch von ihrer «Entmilitarisierung» – zwei Ziele, die vermutlich die Eroberung der gesamten Ukraine, die Kapitulation ihrer Streitkräfte und die Einsetzung eines freundlichen Regimes in Kiew erfordern würden.6a–c

Ein entscheidender Sieg dieser Art ist aus einer Reihe von Gründen nicht zu erwarten. Die russische Armee ist für eine solche Aufgabe, die wahrscheinlich mindestens zwei Millionen Mann erfordern würde, nicht gross genug.7 Tatsächlich hat die bestehende russische Armee Schwierigkeiten, den gesamten Donbass zu erobern. Ausserdem würde der Westen enorme Anstrengungen unternehmen, um Russland daran zu hindern, die gesamte Ukraine zu erobern. Schliesslich würden die Russen am Ende riesige Gebiete besetzen, die stark von ethnischen Ukrainern bewohnt sind, die die Russen verabscheuen und sich heftig gegen die Besetzung wehren würden. Der Versuch, die gesamte Ukraine zu erobern und sie dem Willen Moskaus zu unterwerfen, würde mit Sicherheit in einer Katastrophe enden.

Abgesehen von der Rhetorik über die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine bestehen die konkreten Ziele Russlands darin, einen grossen Teil des ukrainischen Territoriums zu erobern und zu annektieren und gleichzeitig die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat zu verwandeln. Dadurch wäre die Fähigkeit der Ukraine, einen Krieg gegen Russland zu führen, stark eingeschränkt und es wäre unwahrscheinlich, dass sie sich für eine Mitgliedschaft in der EU oder der Nato qualifiziert. Ausserdem wäre eine zerrüttete Ukraine besonders anfällig für eine russische Einmischung in die Innenpolitik des Landes. Kurz gesagt, die Ukraine wäre keine westliche Bastion an der Grenze zu Russland.

Drei Anreize

Wie würde dieser dysfunktionale Rumpfstaat aussehen? Moskau hat die Krim und vier weitere ukrainische Oblaste – Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja – offiziell annektiert, die zusammen etwa 23 Prozent des ukrainischen Territoriums vor Ausbruch der Krise im Februar 2014 ausmachen. Die russische Führung hat betont, dass sie nicht die Absicht hat, dieses Gebiet aufzugeben, das zum Teil noch nicht unter russischer Kontrolle steht. Es gibt sogar Grund zu der Annahme, dass Russland weiteres ukrainisches Territorium annektieren wird, wenn es militärisch in der Lage ist, dies zu einem vertretbaren Preis zu tun. Es ist jedoch schwierig, zu sagen, wie viel zusätzliches ukrainisches Territorium Moskau annektieren will, wie Putin selbst deutlich macht.8

Das russische Denken wird wahrscheinlich von drei Annahmen beeinflusst. Moskau hat einen starken Anreiz, ukrainisches Territorium zu erobern und dauerhaft zu annektieren, das stark von ethnischen Russen und russischsprachigen Menschen bevölkert ist. Es will sie vor der ukrainischen Regierung schützen – die allem Russischen gegenüber feindlich gesinnt ist – und sicherstellen, dass es nirgendwo in der Ukraine zu einem Bürgerkrieg kommt, wie er zwischen Februar 2014 und Februar 2022 im Donbass stattgefunden hat. Gleichzeitig wird Russland vermeiden wollen, Gebiete zu kontrollieren, die grösstenteils von feindlich gesinnten, ethnischen Ukrainern bewohnt werden, was einer weiteren russischen Expansion erhebliche Grenzen setzt. Um die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat zu verwandeln, muss Moskau beträchtliche Teile des ukrainischen Territoriums einnehmen, damit es in der Lage ist, der Wirtschaft des Landes erheblichen Schaden zuzufügen. Die Kontrolle der gesamten ukrainischen Küstenlinie entlang dem Schwarzen Meer beispielsweise würde Moskau einen erheblichen wirtschaftlichen Einfluss auf Kiew verschaffen.

Diese drei Berechnungen legen nahe, dass Russland wahrscheinlich versuchen wird, die vier Oblaste Dnjepropetrowsk, Charkiw, Mykolajiw und Odessa zu annektieren, die unmittelbar westlich der vier bereits annektierten Oblaste Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja liegen. In diesem Fall würde Russland etwa 43 Prozent des ukrainischen Territoriums vor 2014 kontrollieren.9 Dmitri Trenin, ein führender russischer Stratege, schätzt, dass die russische Führung versuchen würde, noch mehr ukrainisches Territorium zu erobern, indem sie in der Nordukraine nach Westen bis zum Fluss Dnjepr vordringt und den Teil von Kiew einnimmt, der am Ostufer dieses Flusses liegt. Er schreibt, dass «ein logischer nächster Schritt» nach der Einnahme der gesamten Ukraine von Charkiw bis Odessa «darin bestünde, die russische Kontrolle auf die gesamte Ukraine östlich des Dnjepr auszudehnen, einschliesslich des Teils von Kiew, der am Ostufer des Flusses liegt. In diesem Fall würde der ukrainische Staat auf die zentralen und westlichen Regionen des Landes schrumpfen.»10a–b

Russische Schwäche

Es mag heute schwer zu glauben sein, aber bevor die Ukraine-Krise im Februar 2014 ausbrach, sahen die westlichen Staats- und Regierungschefs Russland nicht als Sicherheitsbedrohung an. So sprachen die Staats- und Regierungschefs der Nato auf dem Gipfeltreffen des Bündnisses 2010 in Lissabon mit dem russischen Präsidenten über «eine neue Phase der Zusammenarbeit auf dem Weg zu einer echten strategischen Partnerschaft».11 Es überrascht nicht, dass die Nato-Erweiterung vor 2014 nicht mit der Eindämmung eines gefährlichen Russlands begründet wurde. Tatsächlich war es die russische Schwäche, die es dem Westen ermöglichte, Moskau die ersten beiden Tranchen der Nato-Erweiterung in den Jahren 1999 und 2004 aufzudrängen, und die es der Regierung von George W. Bush im Jahr 2008 ermöglichte zu glauben, dass Russland gezwungen werden könnte, den Beitritt Georgiens und der Ukraine zum Bündnis zu akzeptieren. Diese Annahme erwies sich jedoch als falsch, und als 2014 die Ukraine-Krise ausbrach, begann der Westen plötzlich, Russland als gefährlichen Feind darzustellen, den es einzudämmen, wenn nicht gar zu schwächen galt.12

Die Hauptakteure glauben gewinnen zu müssen, um nicht schreckliche Konsequenzen zu erleiden.

Seit dem Ausbruch des Krieges im Februar 2022 hat sich die Wahrnehmung Russlands durch den Westen immer weiter verschärft, bis zu dem Punkt, an dem Moskau nun als existenzielle Bedrohung angesehen wird. Die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten sind tief in den Krieg der Ukraine gegen Russland verstrickt. In der Tat tun sie alles, ausser selber auf die Knöpfe ihrer Waffensysteme zu drücken.13a–b Darüber hinaus haben sie sich eindeutig dazu verpflichtet, den Krieg zu gewinnen und die Souveränität der Ukraine aufrechtzuerhalten. Eine Kriegsniederlage hätte also äusserst negative Folgen für Washington und die Nato. Amerikas Ruf als kompetenter und verlässlicher Partner würde schweren Schaden nehmen, was sich auf den Umgang der Verbündeten wie auch der Gegner – insbesondere Chinas – mit den Vereinigten Staaten auswirken würde. Zudem ist praktisch jedes europäische Land, das der Nato angehört, der Ansicht, dass das Bündnis ein unersetzlicher Sicherheitsschirm ist. Die Möglichkeit, dass die Nato im Fall eines Sieges Russlands in der Ukraine schwer geschädigt – vielleicht sogar zerstört –werden könnte, gibt daher Anlass zu tiefer Besorgnis unter ihren Mitgliedern.

Darüber hinaus wird der Krieg in der Ukraine von führenden westlichen Politikern häufig als integraler Bestandteil eines grösseren globalen Kampfes zwischen Autokratie und Demokratie dargestellt, der in seinem Kern manichäisch ist. Hinzu kommt, dass die Zukunft der unantastbaren, auf Regeln basierenden internationalen Ordnung angeblich davon abhängt, ob man sich gegen Russland durchsetzt. Wie König Charles III. im März 2023 sagte: «Die Sicherheit Europas und unsere demokratischen Werte sind bedroht.»14 In ähnlicher Weise heisst es in einer im April im US-Kongress eingebrachten Resolution: «Die Interessen der Vereinigten Staaten, die Sicherheit Europas und die Sache des internationalen Friedens hängen von einem ukrainischen Sieg ab.»15 Ein kürzlich erschienener Artikel in der Washington Post fasst zusammen, wie der Westen Russland als existenzielle Bedrohung behandelt: «Die Führer der mehr als fünfzig anderen Länder, die die Ukraine unterstützen, haben ihre Unterstützung als Teil eines apokalyptischen Kampfes um die Zukunft der Demokratie und der internationalen Rechtsstaatlichkeit gegen Autokratie und Aggression dargestellt, den zu verlieren sich der Westen nicht leisten kann.»16

Position der Nato

Wie klar sein sollte, ist der Westen fest entschlossen, Russland zu besiegen. Präsident Biden hat wiederholt erklärt, dass die Vereinigten Staaten in diesem Krieg gewinnen wollen. «Die Ukraine wird niemals ein Sieg für Russland sein.» Er muss mit einem «strategischen Scheitern» enden. Washington, so betonte er, werde so lange im Kampf bleiben, «wie es nötig ist».17 Konkret geht es darum, Russlands Armee in der Ukraine zu besiegen – und damit seine territorialen Gewinne zu vernichten – sowie seine Wirtschaft mit tödlichen Sanktionen lahmzulegen. Im Erfolgsfall würde Russland aus dem Kreis der Grossmächte verdrängt und so weit geschwächt, dass es nicht mehr mit einer erneuten Invasion in der Ukraine drohen könnte.18 Die westliche Führung verfolgt weitere Ziele, darunter einen Regimewechsel in Moskau, die Verurteilung Putins als Kriegsverbrecher und möglicherweise die Aufteilung Russlands in kleinere Staaten.19

Gleichzeitig ist der Westen nach wie vor entschlossen, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, auch wenn innerhalb des Bündnisses Uneinigkeit darüber herrscht, wann und wie dies geschehen soll.20a–c Jens Stoltenberg, der Generalsekretär der Nato, erklärte auf einer Pressekonferenz in Kiew im April 2023, dass «die Position der Nato unverändert bleibt und die Ukraine Mitglied des Bündnisses werden wird». Gleichzeitig betonte er: «Der erste Schritt auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato besteht darin, sicherzustellen, dass die Ukraine sich durchsetzt, und deshalb haben die USA und ihre Partner die Ukraine in beispielloser Weise unterstützt.»21 Angesichts dieser Ziele ist klar, warum Russland den Westen als existenzielle Bedrohung ansieht.

Es besteht kein Zweifel, dass die Ukraine einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt ist, da Russland darauf aus ist, das Land zu zerstückeln und dafür zu sorgen, dass der überlebende Rumpfstaat nicht nur wirtschaftlich schwach ist, sondern auch weder de facto noch de jure Mitglied der Nato ist. Es steht auch ausser Frage, dass Kiew das Ziel des Westens teilt, Russland zu besiegen und ernsthaft zu schwächen, damit es sein verlorenes Territorium zurückgewinnen und für immer unter ukrainischer Kontrolle halten kann. Wie Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich zu Chinas Präsidenten Xi Jinping sagte: «Es kann keinen Frieden geben, der auf territorialen Kompromissen beruht.»22 Die ukrainische Führung setzt sich natürlich weiterhin unerschütterlich für einen Beitritt zur EU und zur Nato ein und will die Ukraine zu einem integralen Bestandteil des Westens machen.23

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die drei Hauptakteure im Ukraine-Krieg alle glauben, einer existenziellen Bedrohung gegenüberzustehen, was bedeutet, dass jeder von ihnen glaubt, den Krieg gewinnen zu müssen, um nicht schreckliche Konsequenzen zu erleiden.

Was die Ereignisse auf dem Schlachtfeld betrifft, so hat sich der Krieg zu einem Zermürbungskrieg entwickelt, bei dem es jeder Seite in erster Linie darum geht, die andere Seite ausbluten zu lassen und zur Kapitulation zu zwingen. Natürlich geht es beiden Seiten auch um die Eroberung von Gebieten, aber dieses Ziel ist zweitrangig gegenüber der Zermürbung der anderen Seite.

In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 hatte das ukrainische Militär die Oberhand und konnte in den Regionen Charkiw und Cherson Gebiete von Russland zurückerobern. Doch Russland reagierte auf diese Niederlagen mit der Mobilisierung von 300.000 zusätzlichen Soldaten, der Umstrukturierung seiner Armee, der Verkürzung der Frontlinien und dem Lernen aus seinen Fehlern.24 Der Schwerpunkt der Kämpfe im Jahr 2023 lag in der Ostukraine, vor allem in den Regionen Donezk und Saporischschja. Die Russen hatten in diesem Jahr die Oberhand, vor allem weil sie einen erheblichen Vorteil bei der Artillerie haben, der wichtigsten Waffe im Zermürbungskrieg.

Der Vorteil Moskaus zeigte sich in der Schlacht um Bachmut, die mit der Einnahme der Stadt durch die Russen Ende Mai 2023 endete. Obwohl die russischen Streitkräfte zehn Monate brauchten, um die Kontrolle über Bachmut zu erlangen, fügten sie den ukrainischen Streitkräften mit ihrer Artillerie enorme Verluste zu.25 Kurz darauf, am 4. Juni, startete die Ukraine ihre langerwartete Gegenoffensive an verschiedenen Orten in den Regionen Donezk und Saporischschja. Ziel ist es, die russischen Verteidigungslinien zu durchdringen, den russischen Streitkräften einen empfindlichen Schlag zu versetzen und einen beträchtlichen Teil des ukrainischen Territoriums zurückzuerobern, das sich jetzt unter russischer Kontrolle befindet. Im Wesentlichen geht es darum, die Erfolge der Ukraine in Charkiw und Cherson im Jahr 2022 zu wiederholen.

Es gibt einen Silberstreifen: Ein russischer Sieg verringert die Gefahr eines Atomkrieges deutlich.

Die ukrainische Armee hat bisher kaum Fortschritte bei der Verwirklichung dieser Ziele gemacht und ist stattdessen in tödliche Zermürbungsgefechte mit den russischen Streitkräften verwickelt. Im Jahr 2022 war die Ukraine bei den Feldzügen in Charkiw und Cherson erfolgreich, weil ihre Armee gegen zahlenmässig unterlegene und überforderte russische Streitkräfte kämpfte. Das ist heute nicht der Fall: Die Ukraine greift gegen gutvorbereitete russische Verteidigungslinien an. Aber selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte diese Verteidigungslinien durchbrechen, werden die russischen Truppen die Front schnell stabilisieren, und die Zermürbungsschlachten werden weitergehen.26 Die Ukrainer sind bei diesen Kämpfen im Nachteil, weil die Russen einen erheblichen Vorteil bei der Feuerkraft haben.

Dysfunktionaler Rumpfstaat

Lassen Sie mich von der Gegenwart in die Zukunft blicken und damit beginnen, wie sich die Ereignisse auf dem Schlachtfeld in Zukunft wahrscheinlich entwickeln werden. Wie bereits erwähnt, glaube ich, dass Russland den Krieg gewinnen wird, was bedeutet, dass es am Ende beträchtliche ukrainische Gebiete erobern und annektieren und die Ukraine als dysfunktionalen Rumpfstaat zurücklassen wird. Wenn ich damit richtig liege, wird dies eine schwere Niederlage für die Ukraine und den Westen sein.

Es gibt jedoch einen Silberstreifen am Horizont: Ein russischer Sieg verringert die Gefahr eines Atomkrieges deutlich, da eine nukleare Eskalation am wahrscheinlichsten ist, wenn die ukrainischen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld Siege erringen und drohen, alle oder die meisten der Gebiete, die Kiew an Moskau verloren hat, zurückzuerobern. Die russische Führung würde sicherlich ernsthaft über den Einsatz von Atomwaffen nachdenken, um die Situation zu retten. Sollte ich mich irren und das ukrainische Militär die Oberhand gewinnen und beginnen, die russischen Streitkräfte nach Osten zu drängen, würde die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes erheblich steigen, was aber nicht heisst, dass es wirklich dazu käme.

Worauf stützt sich meine Behauptung, dass die Russen den Krieg wahrscheinlich gewinnen werden?

Der Ukraine-Krieg ist, wie bereits betont, ein Zermürbungskrieg, bei dem die Eroberung und das Halten von Territorium von untergeordneter Bedeutung sind. Das Ziel eines Zermürbungskrieges ist es, die Streitkräfte der anderen Seite so weit zu zermürben, dass diese entweder den Kampf aufgibt oder so geschwächt ist, dass sie das umkämpfte Gebiet nicht mehr verteidigen kann.27 Einen Zermürbungskrieg zu gewinnen, hängt weitgehend von drei Faktoren ab: der Entschlossenheit, der Bevölkerungszahl und den Verlusten. Die Russen verfügen über bessere Voraussetzungen für einen Sieg in diesem Zermürbungskrieg, denn sie haben eine deutlich grössere Bevölkerung und verzeichnen weniger Verluste als die Ukrainer; die Entschlossenheit ist auf beiden Seiten etwa gleich gross.

Betrachten wir zunächst die Entschlossenheit. Wie bereits erwähnt, glauben sowohl Russland als auch die Ukraine, dass sie einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sind, und natürlich sind beide Seiten fest entschlossen, den Krieg zu gewinnen. Daher ist es schwer, einen bedeutenden Unterschied in ihrer Entschlossenheit zu erkennen. Was die Bevölkerungszahl betrifft, so hatte Russland vor Beginn des Krieges im Februar 2022 einen Vorteil von etwa 3,5:1. Seitdem hat sich das Verhältnis merklich weiter zugunsten Russlands verschoben. Etwa acht Millionen Ukrainer sind aus dem Land geflohen und haben die Bevölkerungszahl der Ukraine verringert. Etwa drei Millionen dieser Emigranten sind nach Russland gegangen und haben die Bevölkerungszahl des Landes erhöht. Darüber hinaus leben wahrscheinlich etwa vier Millionen andere ukrainische Bürger in den Gebieten, die Russland jetzt kontrolliert, was das Bevölkerungsungleichgewicht weiter zugunsten Russlands verschiebt. Nimmt man diese Zahlen zusammen, so ergibt sich für Russland ein Vorteil von etwa 5:1 in der Bevölkerungszahl.28a–f

Schliesslich gibt es noch die Verlustzahlen, die seit Beginn des Krieges im Februar 2022 umstritten sind. Die gängige Meinung in der Ukraine und im Westen ist, dass die Zahl der Opfer auf beiden Seiten entweder ungefähr gleich hoch ist oder dass die Russen mehr Opfer zu beklagen haben als die Ukrainer. Der Leiter des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Oleksiy Danilov, geht sogar so weit, zu behaupten, dass die Russen in der Schlacht um Bachmut 7,5 Soldaten auf einen ukrainischen Soldaten verloren haben.29a–b Diese Behauptungen sind falsch. Die ukrainischen Streitkräfte haben mit Sicherheit viel mehr Verluste erlitten als ihre russischen Gegner, und zwar aus einem Grund: Russland verfügt über viel mehr Artillerie als die Ukraine.

Im Zermürbungskrieg ist die Artillerie die wichtigste Waffe auf dem Schlachtfeld. In der US-Armee ist die Artillerie weithin als «König der Schlacht» bekannt, da sie in erster Linie für die Tötung und Verwundung der kämpfenden Soldaten verantwortlich ist.30a-b Daher ist das Gleichgewicht der Artillerie in einem Zermürbungskrieg von enormer Bedeutung. Nach fast allen Angaben sind die Russen bei der Artillerie zwischen 5:1 und 10:1 im Vorteil, was für die ukrainische Armee einen erheblichen Nachteil auf dem Schlachtfeld bedeutet.31a-k Ceteris paribus, also unter sonst gleichbleibenden Bedingungen, würde man erwarten, dass das Verhältnis zwischen Verlusten und Verwundeten etwa dem Verhältnis der Artillerie entspricht. Daher ist ein Verhältnis von 2:1 zugunsten Russlands eine konservative Schätzung.32

Risiko der Offensiven

Eine mögliche Anfechtung meiner Analyse besteht darin zu argumentieren, dass Russland in diesem Krieg der Aggressor ist und der Angreifer immer viel höhere Verluste erleidet als der Verteidiger, vor allem, wenn die angreifenden Streitkräfte breitangelegte Frontalangriffe durchführen, was oft als Modus Operandi des russischen Militärs bezeichnet wird.33a–d Schliesslich befindet sich der Angreifer im Freien und in Bewegung, während der Verteidiger hauptsächlich von festen Positionen aus kämpft, die erhebliche Deckung bieten. Diese Logik liegt der berühmten 3:1-Faustregel zugrunde, die besagt, dass eine angreifende Streitkraft mindestens dreimal so viele Soldaten benötigt wie der Verteidiger, um eine Schlacht zu gewinnen.34 Doch diese Argumentation ist problematisch, wenn man sie auf den Ukraine-Krieg anwendet.

Die ukrainischen Streitkräfte haben mit Sicherheit viel mehr Verluste erlitten als ihre russischen Gegner.

1 _ Nicht nur die Russen führen Offensivkampagnen in diesem Krieg.35 Tatsächlich starteten die Ukrainer im vergangenen Jahr zwei grosse Offensiven, die zu weithin beachteten Siegen führten: die Offensive in Charkiw im September und die Offensive in Cherson zwischen August und November. Obwohl die Ukrainer in beiden Kampagnen erhebliche Gebietsgewinne erzielten, fügte die russische Artillerie den angreifenden Kräften schwere Verluste zu. Ausserdem haben die Ukrainer am 4. Juni eine weitere Grossoffensive gegen russische Streitkräfte begonnen, die zahlreicher und weitaus besser vorbereitet sind als diejenigen, gegen die die Ukrainer in Charkiw und Cherson gekämpft haben.

2 _ Die Unterscheidung zwischen Angreifern und Verteidigern ist in einer grossen Schlacht normalerweise nicht schwarzweiss. Wenn eine Armee eine andere Armee angreift, startet der Verteidiger immer einen Gegenangriff. Mit anderen Worten: Der Verteidiger geht in die Offensive und der Angreifer in die Defensive. Im Laufe einer langen Schlacht wird jede Seite wahrscheinlich viele Angriffe und Gegenangriffe durchführen und feste Positionen verteidigen. Dieses Hin und Her erklärt, warum das Verhältnis zwischen den Verlusten in den Schlachten des amerikanischen Bürgerkrieges und des Ersten Weltkrieges oft ungefähr gleich ist und nicht zugunsten der Armee ausfällt, die in die Defensive gegangen ist. Tatsächlich erleidet die Armee, die als erste zuschlägt, gelegentlich weniger Verluste als die Zielarmee.36 Kurz gesagt: Verteidigung bedeutet in der Regel viel Angriff.

Aus ukrainischen und westlichen Nachrichtenberichten geht hervor, dass die ukrainischen Streitkräfte häufig Gegenangriffe auf die russischen Streitkräfte starten. So berichtet die Washington Post über die Kämpfe in Bachmut zu Beginn dieses Jahres: «‹Es gibt diese fliessende Bewegung›, sagte ein ukrainischer Oberleutnant [...] Russische Angriffe entlang der Front erlauben es ihren Kräften, einige hundert Meter vorzurücken, bevor sie Stunden später zurückgedrängt werden. Es ist schwer zu erkennen, wo genau sich die Frontlinie befindet, weil sie sich wie Wackelpudding bewegt›, sagte er.»37 In Anbetracht des massiven russischen Artillerievorteils liegt die Vermutung nahe, dass das Verhältnis zwischen Verlusten und Gegentreffern bei diesen ukrainischen Gegenangriffen zugunsten der Russen ausfällt – wahrscheinlich sogar eindeutig.

3 _ Die Russen setzen nicht – zumindest nicht oft – grossangelegte Frontalangriffe ein, die darauf abzielen, schnell vorzurücken und Territorium zu erobern, bei denen die angreifenden Truppen jedoch dem vernichtenden Feuer der ukrainischen Verteidiger ausgesetzt wären. Wie General Sergei Surowikin im Oktober 2022 erklärte, als er das Kommando über die russischen Streitkräfte in der Ukraine innehatte, «haben wir eine andere Strategie [...] Wir schonen jeden einzelnen Soldaten und zermalmen den vorrückenden Feind beharrlich.»38 In der Tat haben die russischen Truppen eine clevere Taktik gewählt, die ihre Opferzahlen reduziert.39a–f Ihre bevorzugte Taktik besteht darin, mit kleinen Infanterieeinheiten Sondierungsangriffe gegen feste ukrainische Stellungen zu starten, was die ukrainischen Streitkräfte veranlasst, sie mit Mörsern und Artillerie anzugreifen.40a–h Diese Reaktion ermöglicht es den Russen, festzustellen, wo sich die ukrainischen Verteidiger und ihre Artillerie befinden. Die Russen nutzen dann ihren grossen Vorteil bei der Artillerie, um ihre Gegner unter Beschuss zu nehmen. Danach rücken die russischen Infanterieverbände wieder vor, und wenn sie auf ernsthaften ukrainischen Widerstand stossen, wiederholen sie den Vorgang. Diese Taktik erklärt, warum Russland bei der Eroberung der von der Ukraine gehaltenen Gebiete nur langsam vorankommt.

Man könnte meinen, der Westen könne das Verhältnis zwischen den jeweiligen Verlusten ausgleichen, indem er der Ukraine viel mehr Artillerierohre und -granaten liefert und damit den erheblichen Vorteil Russlands bei dieser wichtigen Waffe beseitigt. Dies wird jedoch nicht so bald geschehen, weil weder die Vereinigten Staaten noch ihre Verbündeten über die notwendigen industriellen Kapazitäten zur Massenproduktion von Artillerierohren und -geschossen für die Ukraine verfügen. Sie können diese Kapazitäten auch nicht schnell aufbauen.41a–f Das Beste, was der Westen tun kann – zumindest für das nächste Jahr oder so –, ist, das bestehende Ungleichgewicht zwischen Russland und der Ukraine aufrechtzuerhalten, aber selbst das wird eine schwierige Aufgabe sein.

Die Ukraine kann wenig dazu beitragen, das Problem zu lösen, da sie nur begrenzt in der Lage ist, Waffen herzustellen. Sie ist fast vollständig vom Westen abhängig, nicht nur bei der Artillerie, sondern bei allen wichtigen Waffensystemen. Russland hingegen verfügte zu Beginn des Krieges über eine beachtliche Kapazität zur Herstellung von Waffen, die seit Beginn der Kämpfe noch weiter ausgebaut wurde. Putin sagte kürzlich: «Unsere Rüstungsindustrie gewinnt täglich an Dynamik. Wir haben die militärische Produktion im letzten Jahr um das 2,7-Fache gesteigert. Unsere Produktion der wichtigsten Waffen hat sich verzehnfacht und steigt weiter an. Die Fabriken arbeiten in zwei oder drei Schichten, und einige sind rund um die Uhr ausgelastet.»42 Kurzum, die Ukraine ist angesichts des traurigen Zustands ihrer Industrie nicht in der Lage, einen Zermürbungskrieg aus eigener Kraft zu führen. Sie kann dies nur mit westlicher Unterstützung tun. Aber selbst dann ist sie zum Verlieren verdammt.

In jüngster Zeit hat sich eine Entwicklung vollzogen, die Russlands Vorsprung bei der Feuerkraft gegenüber der Ukraine weiter vergrössert. Im ersten Jahr des Krieges hatte die russische Luftwaffe wenig Einfluss auf das Geschehen am Boden, vor allem, weil die ukrainische Luftabwehr effektiv genug war, um russische Flugzeuge von den meisten Schlachtfeldern fernzuhalten. Doch die Russen haben die ukrainische Luftabwehr ernsthaft geschwächt, so dass die russische Luftwaffe nun ukrainische Bodentruppen an oder direkt hinter der Frontlinie angreifen kann.43 Darüber hinaus hat Russland die Fähigkeit entwickelt, sein riesiges Arsenal von 500 Kilogramm schweren Eisenbomben mit Lenkvorrichtungen auszustatten, die sie besonders tödlich machen.44a–c

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die casualty exchange ratio zugunsten der Russen ausfallen wird, was in einem Zermürbungskrieg von enormer Bedeutung ist. Zudem ist Russland in der Lage, einen Zermürbungskrieg zu führen, da seine Bevölkerung weitaus grösser ist als die der Ukraine. Kiews einzige Hoffnung, den Krieg zu gewinnen, besteht darin, dass Moskaus Entschlossenheit zusammenbricht, was jedoch unwahrscheinlich ist, da die russische Führung den Westen als existenzielle Gefahr betrachtet.

Hindernisse für den Frieden

Weltweit mehren sich die Stimmen, die alle Seiten im Ukraine-Krieg auffordern, sich der Diplomatie zuzuwenden und ein dauerhaftes Friedensabkommen auszuhandeln. Dies wird jedoch nicht geschehen. Es gibt zu viele gewaltige Hindernisse, um den Krieg in absehbarer Zeit zu beenden oder gar ein Abkommen zu schliessen, das einen dauerhaften Frieden bringt. Das bestmögliche Ergebnis ist ein eingefrorener Konflikt, in dem beide Seiten weiterhin nach Möglichkeiten suchen, die andere Seite zu schwächen, und in dem die Gefahr erneuter Kämpfe allgegenwärtig ist.

Auf der allgemeinsten Ebene ist Frieden nicht möglich, weil jede Seite die andere als tödliche Bedrohung ansieht, die auf dem Schlachtfeld besiegt werden muss. Unter diesen Umständen gibt es kaum Raum für Kompromisse mit der anderen Seite. Weiter gibt es zwei konkrete Streitpunkte zwischen den Kriegsparteien, die unlösbar sind. Der eine betrifft das Territorium, der andere die ukrainische Neutralität.45 Fast alle Ukrainer sind fest entschlossen, ihr gesamtes verlorenes Territorium zurückzubekommen – einschliesslich der Krim.46a–b Wer kann es ihnen verdenken? Aber Russland hat offiziell die Krim, Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja annektiert und ist fest entschlossen, dieses Gebiet zu behalten. Es gibt sogar Grund zu der Annahme, dass Moskau weitere ukrainische Gebiete annektieren wird, wenn es kann.

Der andere gordische Knoten betrifft die Beziehungen der Ukraine zum Westen. Aus verständlichen Gründen möchte die Ukraine nach dem Ende des Krieges eine Sicherheitsgarantie, die nur der Westen bieten kann. Das bedeutet entweder de facto oder de jure eine Mitgliedschaft in der Nato, da kein anderes Land die Ukraine schützen kann. Praktisch alle russischen Führer fordern jedoch eine neutrale Ukraine, was keine militärischen Beziehungen zum Westen und somit keinen Sicherheitsschirm für Kiew bedeutet. Diese Quadratur des Kreises ist nicht möglich.

Es gibt noch zwei weitere Hindernisse für den Frieden: den Nationalismus, der sich inzwischen zu einem Hypernationalismus entwickelt hat, sowie den völligen Mangel an Vertrauen auf der russischen Seite.

Der Nationalismus ist in der Ukraine seit mehr als einem Jahrhundert eine starke Kraft, und die Feindseligkeit gegenüber Russland ist seit langem eines seiner Kernelemente. Der Ausbruch des gegenwärtigen Konflikts am 22. Februar 2014 schürte diese Feindseligkeit und veranlasste das ukrainische Parlament, am folgenden Tag ein Gesetz zu verabschieden, das den Gebrauch des Russischen und anderer Minderheitensprachen einschränkte, ein Schritt, der dazu beitrug, den Bürgerkrieg im Donbass auszulösen.47 Russlands Annexion der Krim kurz darauf verschlimmerte eine schlechte Situation. Im Gegensatz zu der im Westen vorherrschenden Meinung verstand Putin, dass die Ukraine eine von Russland getrennte Nation war und dass es bei dem Konflikt zwischen den im Donbass lebenden ethnischen Russen und Russischsprachigen und der ukrainischen Regierung um die «nationale Frage» ging.48

Die russische Invasion in der Ukraine, die die beiden Länder in einem langwierigen und blutigen Krieg direkt gegeneinander aufbringt, hat diesen Nationalismus auf beiden Seiten in einen Hypernationalismus verwandelt. Verachtung und Hass auf «den Anderen» durchdringen die russische und die ukrainische Gesellschaft, was starke Anreize schafft, diese Bedrohung zu beseitigen – wenn nötig mit Gewalt. Beispiele gibt es zuhauf. Eine bekannte Kiewer Wochenzeitung behauptet, berühmte russische Autoren wie Michail Lermontow, Fjodor Dostojewski, Leo Tolstoi und Boris Pasternak seien «Mörder, Plünderer, Ignoranten».49 Die russische Kultur, so ein prominenter ukrainischer Schriftsteller, stehe für «Barbarei, Mord und Zerstörung» [...] Das ist das Schicksal der Kultur des Feindes.»50a–b

Dazu gehört, dass Bibliotheken von Büchern russischer Autoren gesäubert werden, Strassen mit Namen, die einen Bezug zu Russland haben, umbenannt werden, Statuen von Persönlichkeiten wie Katharina der Grossen abgerissen werden, russische Musik, die nach 1991 produziert wurde, verboten wird, die Beziehungen zwischen der ukrainisch-orthodoxen Kirche und der russisch-orthodoxen Kirche abgebrochen werden und der Gebrauch der russischen Sprache auf ein Minimum reduziert wird. Die Haltung der Ukraine gegenüber Russland lässt sich vielleicht am besten mit Selenskyjs knappem Kommentar zusammenfassen: «Wir werden nicht verzeihen. Wir werden nicht vergessen.»51

Der Nationalismus ist in der Ukraine seit mehr als einem Jahrhundert eine starke Kraft.

Auf der russischen Seite des Berges berichtet Anatol Lieven, dass «jeden Tag im russischen Fernsehen hasserfüllte ethnische Beleidigungen gegen Ukrainer zu sehen sind».52 Es überrascht nicht, dass die Russen daran arbeiten, die ukrainische Kultur in den von Moskau annektierten Gebieten zu russifizieren und auszulöschen. Zu diesen Massnahmen gehören die Ausstellung russischer Pässe, die Änderung der Lehrpläne in den Schulen, die Ersetzung der ukrainischen Griwna durch den russischen Rubel, die gezielte Umbenennung von Bibliotheken und Museen sowie die Umbenennung von Städten.53a–b Bachmut zum Beispiel heisst jetzt Artemovsk, und die ukrainische Sprache wird in den Schulen der Region Donezk nicht mehr gelehrt.54 Offenbar werden auch die Russen weder vergeben noch vergessen.

Das Aufkommen des Hypernationalismus ist in Kriegszeiten vorhersehbar, nicht nur, weil Regierungen sich stark auf den Nationalismus verlassen, um ihre Bevölkerung zu motivieren, ihr Land bis zum Äussersten zu unterstützen. Sondern auch, weil Tod und Zerstörung, die mit einem Krieg einhergehen – insbesondere bei langwierigen Kriegen –, jede Seite dazu bringen, die andere zu entmenschlichen und zu hassen. Im Fall der Ukraine giesst der erbitterte Konflikt um die nationale Identität noch Öl ins Feuer.

Der Hypernationalismus erschwert natürlich die Zusammenarbeit mit der anderen Seite und gibt Russland einen Grund, Gebiete zu besetzen, in denen ethnische Russen und russischsprachige Menschen leben. Vermutlich würden viele von ihnen angesichts der Feindseligkeit der ukrainischen Regierung gegenüber allem, was russisch ist, lieber unter russischer Kontrolle leben. Im Zuge der Annexion dieser Gebiete werden die Russen wahrscheinlich eine grosse Zahl ethnischer Ukrainer vertreiben, vor allem weil sie befürchten, dass diese sich gegen die russische Herrschaft auflehnen werden, wenn sie bleiben. Diese Entwicklungen werden den Hass zwischen Russen und Ukrainern weiter anheizen und einen Kompromiss über das Gebiet praktisch unmöglich machen.

Doppelzüngigkeit des Westens

Es gibt einen letzten Grund, warum ein dauerhaftes Friedensabkommen nicht machbar ist. Die russische Führung traut weder der Ukraine noch dem Westen zu, in gutem Glauben zu verhandeln, was nicht heissen soll, dass die ukrainische und die westliche Führung ihren russischen Amtskollegen vertrauen. Der Mangel an Vertrauen ist auf allen Seiten offensichtlich, aber auf Moskaus Seite ist er aufgrund einer Reihe von Enthüllungen in jüngster Zeit besonders akut.

Die Ursache des Problems liegt in den Verhandlungen über das Minsk-II-Abkommen von 2015, das den Rahmen für die Beendigung des Konflikts im Donbass bildete. Der französische Präsident François Hollande und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel spielten bei der Ausarbeitung dieses Rahmens die zentrale Rolle, obwohl sie sich sowohl mit Putin als auch mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko eingehend beraten haben. Diese vier Personen waren auch die Hauptakteure bei den anschliessenden Verhandlungen. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Putin sich für das Gelingen von Minsk einsetzte. Aber Hollande, Merkel und Poroschenko – sowie Selenskyj – haben alle deutlich gemacht, dass sie nicht an der Umsetzung von Minsk interessiert waren, sondern es als eine Gelegenheit sahen, der Ukraine Zeit zu verschaffen, um ihr Militär aufzurüsten, damit sie mit dem Aufstand im Donbass fertig werden kann. Merkel sagte der Zeit, es sei «ein Versuch, der Ukraine Zeit zu geben, ... um stärker zu werden».55 In ähnlicher Weise sagte Poroschenko: «Unser Ziel war es, zunächst die Bedrohung zu stoppen oder zumindest den Krieg zu verzögern – um acht Jahre für die Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums und den Aufbau schlagkräftiger Streitkräfte zu sichern.»56a–c

Kurz nach Merkels Zeit-Interview im Dezember 2022 sagte Putin auf einer Pressekonferenz: «Ich dachte, die anderen Teilnehmer an diesem Abkommen wären wenigstens ehrlich, aber nein, es hat sich herausgestellt, dass sie uns auch belogen haben und die Ukraine nur mit Waffen vollpumpen und auf einen militärischen Konflikt vorbereiten wollten.» Er fuhr fort, dass er vom Westen übertölpelt wurde und dadurch eine Gelegenheit verpasst habe, das Ukraine-Problem unter für Russland günstigeren Umständen zu lösen: «Offenbar haben wir uns zu spät umorientiert, um ehrlich zu sein. Vielleicht hätten wir das alles [die Militäroperation] früher beginnen sollen, aber wir haben einfach gehofft, dass wir das Problem im Rahmen der Minsker Vereinbarungen lösen können.» Dann machte er deutlich, dass die Doppelzüngigkeit des Westens künftige Verhandlungen erschweren würde: «Das Vertrauen ist schon fast auf dem Nullpunkt, aber wie können wir nach solchen Erklärungen überhaupt noch verhandeln? Und worüber? Können wir mit irgendjemandem eine Vereinbarung treffen, und wo sind die Garantien?»57a–e

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es kaum eine Chance gibt, dass der Krieg in der Ukraine mit einer sinnvollen Friedensregelung endet. Stattdessen wird sich der Krieg wahrscheinlich noch mindestens ein weiteres Jahr hinziehen und schliesslich zu einem eingefrorenen Konflikt werden, der sich wieder in einen Schiesskrieg verwandeln könnte.

Das Ausbleiben eines tragfähigen Friedensabkommens wird eine Reihe von schrecklichen Folgen haben. Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen beispielsweise dürften auf absehbare Zeit zutiefst feindselig und gefährlich bleiben. Jede Seite wird die andere weiterhin dämonisieren und gleichzeitig alles daran setzen, dem Rivalen so viel Schmerz und Ärger wie möglich zuzufügen. Diese Situation wird mit Sicherheit anhalten, wenn die Kämpfe weitergehen. Aber selbst wenn der Krieg in einen eingefrorenen Konflikt übergeht, wird sich das Ausmass der Feindseligkeit zwischen den beiden Seiten wahrscheinlich kaum ändern.

Moskau wird versuchen, die bestehenden Risse zwischen den europäischen Ländern auszunutzen, und gleichzeitig darauf hinarbeiten, die transatlantischen Beziehungen sowie wichtige europäische Institutionen wie die EU und die Nato zu schwächen. Angesichts des Schadens, den der Krieg der europäischen Wirtschaft zugefügt hat und noch immer zufügt, angesichts der wachsenden Enttäuschung in Europa über die Aussicht auf einen nicht endenwollenden Krieg in der Ukraine und angesichts der Differenzen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten in Bezug auf den Handel mit China dürfte die russische Führung einen fruchtbaren Boden finden, um im Westen Unruhe zu stiften.58a–c Diese Einmischung wird natürlich die Russophobie in Europa und den Vereinigten Staaten verstärken und eine schlechte Situation noch verschlimmern.

Der Westen seinerseits wird die Sanktionen gegen Moskau aufrechterhalten und den wirtschaftlichen Austausch zwischen beiden Seiten auf ein Minimum beschränken, um der russischen Wirtschaft zu schaden. Darüber hinaus wird er sicherlich mit der Ukraine zusammenarbeiten, um Aufstände in den Gebieten, die Russland der Ukraine abgenommen hat, zu unterstützen. Gleichzeitig werden die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten weiterhin eine rigorose Eindämmungspolitik gegenüber Russland verfolgen, die nach Ansicht vieler durch den Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato und die Stationierung umfangreicher Nato-Streitkräfte in Osteuropa verstärkt wird.59a–b Natürlich wird sich der Westen weiterhin dafür einsetzen, dass Georgien und die Ukraine in die Nato aufgenommen werden, auch wenn dies unwahrscheinlich ist. Und schliesslich werden die amerikanischen und europäischen Eliten sicherlich weiterhin mit Begeisterung einen Regimewechsel in Moskau herbeiführen und Putin für Russlands Vorgehen in der Ukraine vor Gericht stellen wollen.

Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen werden nicht nur giftig bleiben, sondern auch gefährlich, da die Möglichkeit einer nuklearen Eskalation oder eines Grossmächtekrieges zwischen Russland und den Vereinigten Staaten immer gegeben sein wird.60a–g

Die Ukraine befand sich bereits vor dem Beginn des Krieges im vergangenen Jahr in ernsten wirtschaftlichen und demografischen Schwierigkeiten.61a–d Die Verwüstungen, die der Ukraine seit der russischen Invasion zugefügt wurden, sind erschreckend. Nach einem Überblick über die Ereignisse im ersten Kriegsjahr erklärt die Weltbank, dass die Invasion «der ukrainischen Bevölkerung und der Wirtschaft des Landes einen unvorstellbaren Tribut abverlangt hat, wobei die Wirtschaftstätigkeit im Jahr 2022 um schwindelerregende 29,2 Prozent zurückging». Es überrascht nicht, dass Kiew massive ausländische Hilfsgelder benötigt, nur um die Regierung am Laufen zu halten, nicht zu reden von der Bekämpfung des Krieges.

Demografischer Niedergang

Darüber hinaus schätzt die Weltbank die Schäden auf über 135 Milliarden Dollar und geht davon aus, dass rund 411 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau der Ukraine benötigt werden. Die Armut, so die Weltbank, «stieg von 5,5 Prozent im Jahr 2021 auf 24,1 Prozent im Jahr 2022, was 7,1 Millionen Menschen mehr in die Armut stürzte und fünfzehn Jahre des Fortschritts zunichte machte».62a–c Städte wurden zerstört, etwa acht Millionen Ukrainer sind aus dem Land geflohen, und etwa sieben Millionen sind Binnenvertriebene. Die Vereinten Nationen haben 8490 Tote unter der Zivilbevölkerung bestätigt, obwohl sie davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl «erheblich höher» ist.63 Und sicherlich hat die Ukraine über 100.000 Opfer auf dem Schlachtfeld zu beklagen.

Die Zukunft der Ukraine sieht äusserst düster aus. Der Krieg zeigt keine Anzeichen für ein baldiges Ende, was weitere Zerstörung von Infrastruktur und Wohnraum, weitere Zerstörung von Städten, weitere zivile und militärische Todesopfer und weitere Schäden für die Wirtschaft bedeutet. Und nicht nur, dass die Ukraine wahrscheinlich noch mehr Territorium an Russland verlieren wird, laut der Europäischen Kommission «hat der Krieg die Ukraine auf einen Weg des unumkehrbaren demografischen Niedergangs geführt».64a–b Zu allem Überfluss werden die Russen Überstunden machen, um die Rumpf-Ukraine wirtschaftlich schwach und politisch instabil zu halten. Der anhaltende Konflikt wird wahrscheinlich auch die Korruption anheizen, die schon seit langem ein akutes Problem ist, und extremistische Gruppen in der Ukraine weiter stärken. Es ist kaum vorstellbar, dass Kiew jemals die für einen EU- oder Nato-Beitritt erforderlichen Kriterien erfüllen wird.

Der Krieg in der Ukraine behindert die Bemühungen der USA, China einzudämmen, was für die amerikanische Sicherheit von grösster Bedeutung ist, da China ein ebenbürtiger Konkurrent ist, Russland hingegen nicht.65 Die Logik des Kräftegleichgewichts besagt, dass die Vereinigten Staaten mit Russland gegen China verbündet sein und ihre gesamte Macht nach Ostasien verlagern sollten. Stattdessen hat der Krieg in der Ukraine Peking und Moskau eng zusammengeschweisst und China einen starken Anreiz gegeben, dafür zu sorgen, dass Russland nicht besiegt wird und die USA in Europa gebunden bleiben, was ihre Bemühungen um einen Schwenk nach Ostasien behindert.

Es sollte inzwischen klar sein, dass der Krieg in der Ukraine eine gewaltige Katastrophe ist, die wahrscheinlich nicht so bald enden wird, und wenn doch, wird das Ergebnis kein dauerhafter Frieden sein. Es sind ein paar Worte darüber angebracht, wie der Westen in diese schreckliche Situation geraten ist.

Die gängige Meinung über die Ursprünge des Krieges ist, dass Putin am 24. Februar 2022 einen nichtprovozierten Angriff startete, der durch seinen grossen Plan zur Schaffung eines grösseren Russland motiviert war. Die Ukraine, so heisst es, war das erste Land, das er erobern und annektieren wollte, aber nicht das letzte. Wie ich bei zahlreichen Gelegenheiten gesagt habe, gibt es keine Beweise, die diese Argumentation stützen, und in der Tat gibt es beträchtliche Beweise, die ihr direkt widersprechen.66a–f Es steht zwar ausser Frage, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist, aber die eigentliche Ursache des Krieges war die Entscheidung des Westens – und hier sprechen wir hauptsächlich über die Vereinigten Staaten –, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an Russlands Grenze zu machen. Das Schlüsselelement dieser Strategie war die Aufnahme der Ukraine in die Nato, ein Schritt, den nicht nur Putin, sondern das gesamte russische aussenpolitische Establishment als existenzielle Bedrohung ansah, die es zu beseitigen galt.

Es wird oft vergessen, dass zahlreiche amerikanische und europäische Politiker und Strategen die Nato-Erweiterung von Anfang an ablehnten, weil sie wussten, dass die Russen sie als Bedrohung ansehen würden und dass diese Politik letztlich in eine Katastrophe münden würde. Zu den Gegnern gehören George F. Kennan, William J. Perry, der Verteidigungsminister von Präsident Clinton, und sein Vorsitzender der Stabschefs, General John Schalikaschwili, Paul Nitze, Robert Gates, Robert McNamara, Richard Pipes und Jack Matlock, um nur einige zu nennen.67 Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 sprachen sich sowohl der französische Präsident Nicolas Sarkozy als auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen den Plan von Präsident George W. Bush aus, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Merkel sagte später, ihre Ablehnung beruhe auf ihrer Überzeugung, dass Putin dies als «Kriegserklärung» auffassen würde.68

Natürlich hatten die Gegner der Nato-Erweiterung Recht, aber sie verloren den Kampf, und die Nato marschierte nach Osten, was die Russen schliesslich zu einem Präventivkrieg provozierte. Hätten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im April 2008 nicht versucht, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, oder wären sie nach dem Ausbruch der Ukraine-Krise im Februar 2014 bereit gewesen, den Sicherheitsbedenken Moskaus entgegenzukommen, gäbe es heute wahrscheinlich keinen Krieg in der Ukraine und ihre Grenzen sähen so aus wie bei ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991. Der Westen hat einen kolossalen Fehler begangen, für den er und viele andere noch immer bezahlen müssen.

Quelle: John J. Mearsheimer | Die Weltwoche
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  Matteo "Urs"  Markutt



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