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Türkei: Dem Verbot getrotzt

Begonnen von Bastian, 15. Juli 2022, 06:16:51

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Bastian

Pride-Parade in Istanbul: Demonstrierende widersetzen sich Anordnung – Hunderte Verhaftungen. Eine Reportage aus der türkischen Metropole

Der Taksimplatz ist einer der größten Plätze Istanbuls und traditioneller Versammlungsort sozialer Bewegungen – nicht erst seitdem er 2013 Ausgangspunkt der landesweiten Protestwelle gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan wurde. Doch am 26. Juni konnte niemand auf ihm flanieren. Der gesamte Komplex war mit Gittern abgeriegelt, schwerbewaffnete Polizeieinheiten patrouillierten, auch die Metro fuhr weiträumig nicht mehr. Grund war die angekündigte Pride-Parade, die weltweit stattfindende Demonstration für die Rechte von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten.

Die Parade war zuvor verboten worden, wegen »Sicherheitsbedenken«. Seit 2015 hatte sie mit verschiedenen Begründungen nicht mehr stattfinden dürfen, nachdem zwei Jahre zuvor 100.000 Teilnehmende die größte Pride-Veranstaltung in ganz Osteuropa aller Zeiten abgehalten hatten. Immer wieder versammelten sich trotzdem Leute und wurden teils brutal von Polizisten angegriffen.

Einen Tag zuvor hatte ich die Stadt erreicht. Eigentlich, um ein wenig Urlaub zu machen. Aber wenn man nun schon einmal vor Ort ist und es mit der Solidarität ernst meint, dann kann man ja zumindest mal gucken gehen. Schon auf dem Weg waren viele Straßen gesperrt, jedoch ließ man mich immer durch. Der deutsche Ausweis und ein freundliches Lächeln machten es möglich. Wo genau die Versammlung starten sollte, war mir nicht klar. Da hörte ich ein paar Fetzen Deutsch und konnte sie einer kleinen Gruppe zuordnen, die augenscheinlich dasselbe Ziel hatte wie ich. Kurzerhand nahm sie mich mit und durch kleine Straßen und über steile Treppen schlängelten wir uns zum Ziel.

Leicht durchgeschwitzt erreichten wir die Parade. Etwa 600 Menschen feierten und riefen Parolen, die mir als Forderungen für Freiheit und Gleichberechtigung übersetzt wurden. Dabei trugen sie bunte Kleidung und Fahnen, Glitzerschminke und Plakate. Die Stimmung war gut und alle friedlich. Die Demonstration bog in eine enge Straße. Und wie es kommen musste, betrat die Polizei die farbenfrohe Bühne. Die größtenteils recht jungen Menschen begannen zu rennen. Alle versteckten sich in Hauseingängen. In meinem waren etwa 30 Personen, es war stickig und heiß.

Meinem Freund schrieb ich noch »Ich weiß nicht, ob das eine schlaue Idee war ...« War es nicht.

Wenig später umstellten Polizeieinheiten das Gebäude. Nach wenigen Minuten wurden alle herausgebeten. Vergitterte Einsatzfahrzeuge, vergleichbar mit Reisebussen, fuhren vor. Uns allen wurden die Handys abgenommen und die Hände mit Kabelbindern auf den Rücken gebunden. Mit jeweils einem Beamten wurden wir auf einen Doppelsitz verfrachtet. Als der Bus sich in Bewegung setzte, waren meine Finger bereits taub. Der erste Halt war in einem Krankenhaus. Man fragte uns wohl, ob wir bei der Festnahme verletzt worden waren. Meine Schulter schmerzte, aber aufgrund fehlender Sprachkenntnisse guckte ich nur fragend.

Weiter ging es auf den Hinterhof einer Polizeiwache. Das Warten begann.

Unsere Bewacher entpuppten sich als relativ zugänglich. Nach einer Weile lösten sie unsere Fesseln, brachten sogar Cracker und etwas Wasser. Dass man uns unsere Taschen nicht abgenommen hatte, bedauerte ich ein wenig, als die jungen Frauen vor mir begannen, sich die Nägel zu lackieren. Dazu lief dauerhaft der Motor, um die Klimaanlage zu betreiben. Es stank bestialisch.

Stunde um Stunde verging. Zwischendurch kamen vier Rechtsbeistände vorbei und sagten, sie würden uns bei unseren Aussagen helfen. Sie sprachen Englisch. Dieser kurze Hoffnungsschimmer verkleinerte sich, als sie mir mitteilten, dass ich vielleicht ausgewiesen würde. Während der nächsten Stunden berichteten unsere Bewacher meinen Mitgefangenen, dass sie diesen Abend ebensowenig genossen wie wir, sie hätten schon längst Feierabend und würden die Überstunden nicht bezahlt bekommen. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen.

Die ein oder andere Zigarette durfte geraucht werden – ein Fraternisierungsversuch, den ich deutlich mehr zu schätzen wusste. Während dieser Pausen hörte ich immer wieder lautstarke Auseinandersetzungen. Manch andere Insassen der mittlerweile 28 Busse schienen weniger Glück zu haben.

Nach neun Stunden wurden wir durch einen Gang, der nach Marihuana roch, in unser Vernehmungszimmer geführt. Alle zusammen. Nach einer kurzen Besprechung mit meiner Anwältin war unsere Strategie klar. »Ich bin eine deutsche Touristin und bin nur versehentlich in die Masse geraten!« Wer angesichts der politischen Situation in der Türkei hier die Wahrheit gesagt hätte, werfe den ersten Stein. Oder besser nicht.

Im Anschluss wurden wir alle mitten im Nirgendwo entlassen. Unsere Aufseher scherzten, dass sie uns lieber in einer anderen Situation kennengelernt hätten, ich aber nun eine lustige Urlaubsgeschichte zu erzählen hätte. So war der Spuk für mich nach zehn Stunden um drei Uhr nachts vorüber. Andere der insgesamt über 300 Festgenommenen mussten noch bis zum nächsten Mittag ausharren.

Quelle: junge Welt
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Bastian Gruber
  > Redaktion | Administrator

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