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LATEINAMERIKA »Die neue Weltordnung wird multipolar sein«

Begonnen von Raphael, 13. September 2022, 02:23:48

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Raphael

LATEINAMERIKA
»Die neue Weltordnung wird multipolar sein«

Über sozialen Fortschritt in Nicaragua und den Machtkampf gegen den US-Imperialismus.


Anhänger der Sandinisten und von Nicaraguas Präsident Ortega nehmen an einem Friedensmarsch teil (Managua, 2018)


ZitatJorge Capelán Delongo ist Journalist und Schriftsteller. Geboren 1961 in Montevideo, Uruguay, musste er mit 14 Jahren mit seinen Eltern vor der von den USA gestützten Militärdiktatur aus Uruguay fliehen, lebte im Exil in Venezuela und in den 80ern in Nicaragua. Dort erlebte er die Jahre nach der Sandinistischen Revolution und den Krieg der Contras, die er als prägend für sein weiteres Leben bezeichnete. Anschließend lebte er etliche Jahre in Europa, studierte in Schweden Journalismus und Anthropologie. Seit 2004 ist er aktiv in einer Bewegung gegen die Privatisierung des Wassers in Nicaragua. Seit 2009 lebt er wieder dauerhaft im Land.

Als Journalist arbeitete er unter anderem für die Website der nicaraguanischen Regierung El 19 Digital, Russia Today, Hispan TV und Telesur. Als Analyst ist er tätig im »Centro Regional de Estudios Internacionales«.
Die ehemalige Guerillabewegung Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN, auf deutsch: Sandinistische Front der Nationalen Befreiung, jW), heute als linke politische Partei tätig, ist vor gut 15 Jahren an die Macht in Nicaragua zurückgekehrt. Welche Veränderungen sehen Sie in Nicaragua?

Ich habe in den 80er Jahren, die gesamte Zeit des Contrakrieges in Nicaragua gelebt, danach einige Jahre in Europa. Ab 2004 habe ich in einer sozialen Bewegung gegen die Versuche der Privatisierung des Wassers in Nicaragua gearbeitet, lebte für sechs Monate wieder in Nicaragua, seit 2009 befinde ich mich wieder dauerhaft im Land. In den 15 Jahren der Regierung der Sandinistas kann man sagen: Nicaragua ist heute ein anderes Land.

Ich will das an einigen konkreten Beispielen erklären. Die ganze Zone am Managuasee hier in der Hauptstadt Managua war ein Gebiet voller Bars und Prostitution, Kinder die Kaugummis an die Betrunkenen verkauften, Hunderte Familien, die ohne Obdach auf engem Raum lebten. Das gibt es heute nicht mehr. Die Region am Managuasee ist heute ein großes Freizeitgebiet, »Puerto Salvador Allende«, wo Familien aus Managua ihre Freizeit verbringen können, der Eintritt beträgt fünf Córdoba (etwa 0,14 Euro, jW) und ist für Rentner kostenlos.

In der Zeit des Neoliberalismus, von der Wahlniederlage der Sandinistas 1990 bis 2017, hat hier nichts funktioniert, Strom gab es nur ein oder zwei Stunden am Tag, Wasser 20 Minuten. In den öffentlichen Krankenhäusern musste man selbst Material wie Handschuhe mitbringen. An den öffentlichen Schulen mussten die Kinder ihre Schulbänke selbst mitbringen, dann haben die öffentlichen, eigentlich kostenlosen Schulen von den Eltern Geld für Strom und Wasser verlangt.

Heute gibt es zahlreiche neue Krankenhäuser, Infrastruktur auf dem Land, Entwicklung im Sport, Bau neuer Sportstätten und Fußballstadien. Natürlich, Nicaragua ist ein armes Land, aber ich habe in Schweden gelebt, einem der reichsten Länder Europas: Die Versorgung in den öffentlichen Kliniken ist in Nicaragua vergleichbar. Die Ursache dafür, dass Nicaragua die schwächste Wirtschaft in Mittelamerika hat, ist das Ergebnis des ungerechten Welthandels und des Kolonialismus. Die Mehrheit der Menschen lebt in einfachen und bescheidenen Wohnverhältnissen, aber die Basisversorgung im Bereich Gesundheit, Bildung und Mobilität ist heute in Nicaragua sichergestellt. Stärkere Volkswirtschaften in Mittel- und Lateinamerika können das für ihre Bevölkerung nicht gewährleisten.

Gibt es immer noch einen privaten Sektor im Bildungs- und Gesundheitsbereich, oder ist alles öffentlich?

Es gibt noch einen privaten Bereich. Im Bildungssektor lautet die Philosophie der Regierung, wer eine private Ausbildung möchte und sie bezahlen kann, dem steht es frei. Aber das öffentliche Bildungssystem ist heute nicht schlechter als das private. Es gibt eine gute Entwicklung in der Bildung, im Bereich der Technologie und des Tourismus. Dieser ist sehr wichtig für Nicaragua, auch wenn der Tourismus aus den USA und Europa seit 2018 eingebrochen ist.

Welche weiteren sozialen Fortschritte sehen sie?

Der Preis für den öffentlichen Personennahverkehr ist seit 2007 (Amtsantritt von Daniel Ortega, jW) unverändert, eine Busfahrt kostet fünf Córdoba, und man kann sich heute auf der Straße bewegen, ohne überfallen und ausgeraubt zu werden. Ein anderer Punkt ist die Energieversorgung: 85 Prozent wird heute in Nicaragua durch saubere, erneuerbare Energie abgedeckt, nur noch 15 Prozent auf Basis von Erdöl. In der neoliberalen Phase war dieser Anteil bedeutend höher. 98,5 Prozent der Menschen in Nicaragua sind heute ans Stromnetz angeschlossen, in den 1990er Jahren waren es nur etwa 50 Prozent.

Wie wurde das erreicht?

Es gibt einen Schlüssel für diese Erfolge, das ist die Revolution von 1979 gegen Präsident Somoza, eine der schrecklichsten Diktaturen in Lateinamerika. Danach gab es eine weitgehende Landreform, der Boden wurde an die Kleinbauern verteilt. Dem Krieg der Contras in den 80ern fielen dann zahlreiche Menschen zum Opfer. In diesem Krieg sprach es die US-Botschaft offen aus: »Wählt die Rechte, dann endet der Krieg.« Trotzdem, auch in der dann folgenden neoliberalen Phase, gelang es der Rechten nicht, die Veränderungen der Eigentumsverhältnisse nach der Revolution komplett rückgängig zu machen.

Nach dem Wahlsieg der Sandinistas konnten die Investitionen, auch mit finanzieller Hilfe aus Venezuela erhöht werden, heute machen der staatliche Sektor und kleine Familienbetriebe 60 Prozent der Ökonomie in Nicaragua aus. Deswegen lässt sich das auch nicht so einfach beispielsweise in Honduras oder Guatemala kopieren, es bedürfte hierfür einer Revolution wie der von 1979. Nicaragua ist das größte Land Mittelamerikas, auch wenn nur etwa 6,5 Millionen Menschen hier leben. Es ist geopolitisch bedeutsam, die Verbindung zum Atlantik und Pazifik, der gesamte Warenverkehr von Süd nach Nord und umgekehrt muss durch das Land. Ein starkes Nicaragua bedeutet ein starkes Mittelamerika.

In Deutschland ist wenig zu hören von den Punkten, die Sie genannt haben. In den Medien heißt es meist, Daniel Ortega sei ein Diktator, die Opposition dürfe nicht legal arbeiten und die Presse sei kontrolliert. Aber auch von links kommt Kritik. So berichtete das alternative Webportal Prensacomunitaria vor einigen Wochen über die Einschränkung der Pressefreiheit. Teile der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua in Deutschland stehen heute Ortega sehr kritisch gegenüber. Wie sieht es mit der Meinungs- und Pressefreiheit in Nicaragua aus?

Ich lebe in einem Volksstadtteil in Managua, jeder in unserem Stadtteil kennt mich, ich bin bekannt für politische Analysen und Auftritte im Fernsehen. Ich bewege mich zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Probleme habe ich noch keine gehabt.

Es gibt Menschen, die vertreten die Ansicht der Reichen, sie sagen, die politische Rechte würde das Land besser regieren, und wir sollten uns an den USA und Europa orientieren. Ich denke, etwa 30 Prozent der Menschen in Nicaragua vertreten diese Position. Die politische Rechte hat aber keinen Finger gerührt, um das Land voranzubringen. Sie vertritt konservativ-liberale Ideen, sah das Land aber immer als ihre Finca an, mit »Indios«, die die Arbeit erledigen sollten.

Es gibt außerdem den Movimiento Renovador Sandinista (Bewegung Sandinistische Erneuerung, jW) von Edmundo Jarquín, der bei den letzten Wahlen als Präsidentschaftskandidat antrat. In den 70ern vertrat er konservative Positionen und war Informant der US-Botschaft. Als sich der Sieg der Sandinistas im Guerillakampf abzeichnete, trat er in die Sandinistische Bewegung ein, mit dem Segen der USA. Nach der Wahlniederlage der FSLN in den 90ern gab es Diskussionen in der Partei: Der intellektuelle Flügel, viele die als Botschafter im Ausland gewesen oder Abgeordnete der Partei im Kongress waren, vertrat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Position, das Ende der Geschichte sei erreicht, der Imperialismus habe gesiegt, man müsse sich an der neoliberalen Demokratie orientieren. Innerhalb der Partei konnten sie sich nicht durchsetzen, auf einem Kongress der FSLN 1994 fanden ihre Positionen nur bei etwa fünf Prozent der Delegierten Zustimmung. Daraus entstand die Bewegung zur Sandinistischen Erneuerung, im vergangenen Jahr haben sie das Wort »Sandinistisch« gestrichen, nennen sich jetzt Demokratische Partei oder so, als fünfte Kolonne des Imperialismus der USA und der EU.

2018 gab es große Proteste gegen die Regierung, Gewalt und zahlreiche Tote. Was war passiert?

Die Unternehmer hatten die damals bestehende Allianz mit der Regierung beendet. Es war ein Umsturzversuch, der klassische Versuch einer sogenannten Farbenrevolution. Es gab Gewalt gegen Anhänger der Sandinistas, Morde, Vergewaltigungen, Brandschatzungen. Aber auch vermeintlich linke Journalisten berichteten nur über die Gewalt der Staatsorgane. Bei den Wahlen im November vergangenen Jahres war die imperiale Linie der Boykott der Wahlen. Im Sommer dieses Jahres wollte eine Gruppe überwiegend junger Menschen aus »progressiven Bewegungen« Nicaragua besuchen – um die politischen Gefangenen zu besuchen, wie sie es nannten. Sie wurden nicht ins Land gelassen, sie konnten auch keine klaren Aussagen machen, von welchen Organisationen sie eingeladen wurden. Sie werden benutzt von Organisationen des Imperialismus und der politischen Rechten.

Ist das alles nicht ein bisschen zu einfach dargestellt? Vor einigen Wochen sorgte der Fall von Irma Velásquez für Aufsehen. Sie ist eine linke, indigene Anthropologin aus Guatemala, die Ende Juli bei der Einreise am Flughafen in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua verhaftet wurde. Eigenen Angaben zufolge wurde ihr Gepäck durchsucht, sie sei ohne Angabe von Gründen stundenlang festgehalten und schließlich ausgewiesen worden. Prensacomunitaria fand klare Worte, sprach von »Regime« und »Diktatur«. Sind Irma Velásquez und Prensacomunitaria auch Agenten des Imperialismus?

Nein, aber es gibt eine totale Durchdringung der imperialistischen Interessen. Einige ehemalige Revolutionäre in Nicaragua haben sich auf die Seite der US-Botschaft geschlagen. Manche, einst strenge Marxisten-Leninisten, handeln heute als Verräter der Arbeiterklasse und der Volksinteressen.

Es gibt in Lateinamerika starke antikoloniale und antiimperialistische Volksbewegungen, aber es gibt auch Verwirrung. Die europäische Sozialdemokratie und die Demokratische Partei in den USA bemühen sich, dem Imperialismus einen progressiven Anstrich zu geben. Wir haben als »Centro Regional de Estudios Internacionales« gute Kontakte zum Netzwerk »Abya Yala Soberana« (ein Netzwerk sozialer Bewegungen in Lateinamerika, jW). Im vergangenen Jahr wurde ein erstes Treffen in Guatemala ausgerichtet, dieses Jahr soll ein weiteres zu den Rechten der indigenen Völker folgen. Nicaragua ist ein plurinationaler Staat, wir haben Autonomie für indigene Völker.

Sie sprechen auf der Website Ihres Zentrums von einer neuen Weltordnung. Was macht diese aus, und welche Macht haben die USA noch?

Wir stehen vor der Herausforderung, unsere eigene Form der Zivilisation zu schaffen, unseren eigenen lateinamerikanischen Sozialismus. Aber auch weltweit brauchen wir eine Form der Zivilisation, in der wir auch Menschen respektieren, die nicht so denken wie wir. Die USA haben ernsthafte strukturelle Probleme, investieren nichts in Lateinamerika, haben nichts anzubieten. Sie zerstören die Ökonomien in Lateinamerika, in Europa und letztlich auch ihre eigene. Sie wollen eine multinationale, neoliberale Diktatur schaffen. Die neue Weltordnung wird hingegen eine multipolare sein, Russland und China als globale Akteure, mit staatskapitalistischen oder sozialistischen Elementen, vielleicht eine Mischung aus beidem. Die USA stellen eine ernste Gefahr für unseren Kontinent dar, das zeigt ihre Politik gegen uns in Nicaragua und gegen Venezuela – Kuba leidet seit über 60 Jahren stark unter der US-Blockade.

Quelle: junge Welt
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Mrg. Raphael Grant



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